Critical Mass in den Bundesländern feiert Geburtstag
Seit zehn Jahren gibt es die Critical Mass auch in den Bundesländern. Drahtesel-Autor Mirko Javurek** würdigt in seinem Beitrag die lebensfrohe Protestbewegung, die sich für eine gerechtere Verteilung des Straßenraums einsetzt.
Die Critical Mass (abgekürzt CM) entstand 1992 in San Francisco. Die Idee der CM: Radfahrende kommen einmal im Monat zusammen, um sich auf der Straße den Platz zu nehmen, den autozentrierte Verkehrsplanung ansonsten Autos vorbehält.
Critical Mass-Fahrten funktionieren nur dann richtig, wenn eine gewisse Zahl an Menschen, eine „kritische Masse“ eben, mitradelt, die dem Autoverkehr ein entsprechendes Gegengewicht setzt. Mittlerweile finden die Fahrten weltweit in mehr als 300 Städten statt. Hierzulande etablierten sich die Ausfahrten zunächst in Wien. Vor zehn Jahren dann auch in den Bundesländern. Wir unternehmen aus diesem Anlass einen Streifzug durch ganz Österreich und schauen nach, wie sich die Critical Mass abseits der Bundeshauptstadt entwickelt hat.
Graz: Die Braven und die Bunten
Die erste CM in Graz rollte am letzten Märzfreitag 2007 vom Südtiroler Platz los. Damals noch mit Starthilfe aus Wien. Seither wurde 105 Mal gefahren, jeweils ein bis eineinhalb Stunden gemächlich auf Hauptverkehrsstraßen, meist mit Musik, manchmal mit Motto und immer recht bunt. Es dauerte, bis die unorganisierte, spontane temporäre Inanspruchnahme des Straßenraums zum Selbstläufer wurde; anfangs kam es wegen „unterkritischer“ Beteiligung, wozu auch Polizeistrafen beigetragen haben dürften, zu Absagen. Nach einer Phase der Begleitung durch die Polizei, die auf Einhaltung gewisser Spielregeln pochte, wird inzwischen ohne Eskorte gecruist. „Das Fahrrad stellt ein wichtiges Verkehrsmittel der Mobilitätskette dar und verdient daher vollwertige verkehrspolitische Anerkennung und Förderung als nachhaltigstes, klügstes, gesündestes Nahverkehrsmittel“, heißt es auf einem Flugblatt zur Pionierfahrt vor zehn Jahren. An diesem Ziel hat sich bis heute nichts geändert.
Sehr wohl geändert hat sich das Publikum: Anfangs stärker politisiert, ist die Masse heute heterogener: Bei den jeweils 50 bis 100 Personen hat außerdem der Fun-Faktor größere Bedeutung.
Soundmobile und Livebands auf Lastenrädern sorgen für Rhythmus, Verkleidungen sind erwünscht, einige haben auch (flüssige) Verköstigung an Bord. Der Fuhrpark umfasst nahezu alles, was unter Einsatz von Muskelkraft rollt. Öfters klingt die Ausfahrt mit einem Picknick im Park oder einem Festl aus. Einige Male wurden aus der CM (leider) Trauerfahrten, bei denen für im Straßenverkehr getötete Radfahrende weiße Ghostbikes aufgestellt wurden.
Linz: CM als Aktionsform geduldet
Am 20. April 2007 wird erstmals auch Linz zum Schauplatz einer Critical Mass. Rund 70 Personen nehmen an der Ausfahrt teil. Zeitzeugen berichten, dass sich eine euphorische Stimmung einstellt, als die oft mehrspurigen Hauptverkehrsstraßen von einem Pulk von Radfahrenden vereinnahmt werden und Motorgeräusche dem Klang von Klingeln weichen. Bei den ersten Fahrten kommt es noch gelegentlich zu Polizeieinsätzen, aber bald wird die CM als Aktionsform geduldet. Jeden letzten Freitag im Monat treffen einander 70 bis 230 Radfahrende jeweils um 16.30 Uhr am Linzer Hauptplatz. In den ersten paar Jahren gab es noch eine Winterpause von November bis Februar – mittlerweile wird durchgefahren (Ausnahme: Dezember). Live-Musik und mobile Tonanlagen verbreiten auch in Linz Party- Stimmung.
Leonding: Frühjahrsradeln
Frustriert über die schlechten Bedingungen fürs Radfahren und die geringen Aussichten, etwas verbessern zu können, fanden Aktive in Leonding Gefallen an der CM-Idee. Sie organisieren in der an Linz grenzenden Stadt seit 2012 mehrmals j.hrlich die „Tour de Leonding”: Radfahrten, die quer durch die Stadt zu verschiedenen Zielen führen und schlie.lich gemeinsam ausklingen. Diese Radtouren sind eine gute Möglichkeit, Kontakte zu knüpfen und verkehrspolitisches Bewusstsein zu wecken. Im vergangenen Jahr wurde die Tour de Leonding umbenannt und als Frühlings- und Herbstradln neu organisiert.
Wels: Rad & Tat
In Wels, mit 60.000 Einwohnerinnen und Einwohnern die zweitgrößte Stadt Oberösterreichs, fanden 2009 mehrere CM-ähnliche Fahrten unter dem Titel „Rad & Tat“ statt, die sich aber nicht dauerhaft etablieren konnten. Mögliche Ursachen sind wenig studentisches Publikum und die Abwanderung engagierter Personen – insbesondere jener, die zum Studieren die Stadt verlassen.
Salzburg: frische Impulse
Gerade einmal 20 Teilnehmende zählte die erste Salzburger CM im September 2008. Heuer – bei den Feiern zum 200. Geburtstag des Fahrrades – radelten bereits 200 Personen mit. Dazwischen liegen Ausfahrten mit einer Handvoll Radlerinnen und Radlern, aber auch „Schönwetter-CMs“, zu denen mehr als hundert Personen stießen. Es gab mehrere Winterpausen und Fälle von CM-Frühjahrsmüdigkeit. Regelmäßige unangenehme Begegnungen mit Ordnungskräften in den frühen Jahren waren eher Folge der behördlichen Unkenntnis als gezielte Repression. Die CM wird in Salzburg oft als Teil der „neuen Fahrradkultur“ gesehen oder zumindest als frisches aktivistisches Milieu, von dem Impulse für eine
bessere Mobilität und lebenswerteren Stadt ausgehen. In einer Stadt wie Salzburg, in der jeder fünfte Weg per Rad zurücklegt wird, wäre es freilich verwegen, Fahrradkultur bloß an einer monatlichen Radfahrt einiger Dutzender festzumachen. Ein Aspekt der CM, der tatsächlich einen Wandel des urbanen Radfahrens ablesbar macht, ist allerdings der steigende Anteil mitradelnder Eltern mit Kindern.
Innsbruck: Nicht die Massen
Im Jahr 2008 starteten in Innsbruck regelmäßige Critical-Mass-Fahrten. Man traf sich am letzten Freitag im Monat bei der Annasäule in der Maria-Theresien-Straße und radelte je nach Lust und Laune inklusive Musikbegleitung durch Innsbruck. Die „Massen“ waren durch die CM in Tirols Landeshauptstadt hingegen schwer zu erreichen.
Woran es lag, dass die CM nicht richtig ins Rollen kam? Wechselnde Personen, die sich um die Bewerbung kümmerten, Winterpausen, die teilweise ungeplant länger als ein paar Wintermonate dauerten sowie die Situation, dass viele radelnde Studierende am Wochenende und im Sommer Innsbruck verlassen.
Die Radlobby Tirol war meistens mit Vertreterinnen und Vertretern bei der CM dabei. Seit einigen Jahren ist die CM in Innsbruck leider gänzlich eingeschlafen. Engagierte Menschen, die sie wieder aufleben lassen, sind dringend gesucht!
Feldkirch: Rauch war dabei
„Wir hatten ein paar Flyer gedruckt und verteilt. Und waren dann überrascht, wie viele sich am Busplatz Katzenturm versammelt hatten“, berichtet Erwin* von der ersten Critical Mass in Vorarlberg, die 2008 in Feldkirch stattfand: „Ich hatte einen Ghettoblaster vom Sperrmüll mit einem alten Notebook-Akku ausgestattet und auf die Ladefläche meines Bäckerrads montiert.“ Neben dem improvisierten Soundmobil waren auch rund 80 Radfahrende dabei, unter ihnen Johannes Rauch, der in Vorarlberg inzwischen Verkehrslandesrat ist. Es gab in Feldkirch in der Folge noch zwei CM-Fahrten, dann schlief die Sache ein.
Klagenfurt: 2018 wieder
Ansätze einer CM gibt es auch in Klagenfurt: die erste kommt im November 2013 zustande. Seither fahren einige Dutzend Aktive in unregelmäßigen Abständen und neben den üblichen Freitagen auch an Samstagen vor dem Wörtherseemandl in der Fußgängerzone los. Die Strecke führt meistens über den stark Kfz-frequentierten Innenring. „Entlang unserer Route gab es nur teilweise Radwege, die wir aber als Critical Mass nicht benutzten“, berichtet ein Aktivist: „Dadurch kam es zu Behinderungen des motorisierten Individualverkehrs. Kfz-Lenkende brachten ihre ablehnende Haltung uns gegenüber mit Hupen zum Ausdruck.“ Die nächste Critical Mass in Klagenfurt wird erst wieder 2018 ausgeschrieben.
Niederösterreich: jetzt Radparade
Die Vorreiterrolle bei der CM in Niederösterreich kommt Wiener Neustadt zu, wo am 12. September 2008 die erste Fahrt stattfand. 50 Leute machen damals mit. „Angespornt durch diesen Zuspruch beschlossen wir eine monatliche CM in Wiener Neustadt“, berichtet Peter*. Leider sei dies aus Mangel an regelmäßig Teilnehmenden nicht durchzuhalten gewesen. „In der Folge beschlossen wir, die CM nur einmal im Jahr zu organisieren. Da beteiligten sich dann immer viele Leute.“ Seit einer Ermahnung durch die Polizei werden die CM-Fahrten als Versammlung angemeldet. 2016 wurde die jährliche CM dann in „Radparade“ umbenannt. „Das versteht jeder. Es wirkt auch am Land oder in kleineren Städten besser“, meint Peter: „Auch die Startzeit wurde auf Samstag Vormittag verlegt.“
Melk, St. Pölten und Neunkirchen
Keine CM im eigentlichen Sinn, aber regelmäßige Ausfahrten gibt es in Melk, wo die Radlobby 2014 zum ersten Tweed Ride lud. 2015 gab es die erste Radparade in St. Pölten, die inzwischen zweimal jährlich stattfindet. Neu hinzugekommen ist die Radparade 2017 in Neunkirchen, wo sich in der kleinen Stadt immerhin über 30 Teilnehmende fanden.
Fazit
CM-Fahrten konnten sich in den größeren Landeshauptstädten etablieren und haben einen frischen Wind in die Radkultur gebracht. Weil in kleineren Städten mit weniger als ca. 100.000 Bewohnerinnen und Bewohnern die Bildung einer kritischen Masse schwierig ist, steht oft mehr der Spaß als die Rückeroberung des Straßenraums im Vordergrund. Obwohl die CM vom Grundgedanken her eine nicht organisierte Aktionsform ist, braucht es ein paar Motivierte, die sich insbesondere um die Ankündigung und Bewerbung kümmern. Die CM hat dazu beigetragen, dass Radfahren von der Allgemeinheit, aber auch von Politik und Verkehrsplanung stärker wahrgenommen wird. Manche Leute werden zum Radfahren motiviert, die sich alleine aufgrund schlechter Bedingungen nicht trauen. Für die Mehrheit gilt jedoch das Motto: „ride daily, celebrate monthly!“ – frei übersetzt „täglich im Alltag Radfahren, und es einmal im Monat feiern!“.
* Namen auf Wunsch der Interviewten von der Redaktion geändert
** Dieser Text ist die Zusammenschau von Beiträgen verschiedener Autorinnen und Autoren aus den Bundesländern.
Critical Mass
Mehr Infos unter
www.criticalmass.at
ooe.radlobby.at/download/2009-Kontraste_CM.pdf