Wurzelsuche (fast) ohne Wiederkehr
Waldeinsamkeit, Stadttrubel, freundliche Begegnungen und unmotivierte Bahnbeamtinnen. So erlebt Matthias Pintner die Reise zu den Geburtsorten seiner Großmütter von Wien nach Breslau und zurück.
Als Ahnenforschungsreise angelegt, wollte ich die Heimat meiner beiden Großmütter im Herzen Mitteleuropas per Zug und Rad erkunden. Meine Großmutter väterlicherseits stammte aus der mährischen Hauptstadt Brünn, die andere aus dem schlesischen Dorf Wiese Gräflich, das heute Łąka Prudnicka heißt und in Polen liegt. Beide Frauen wurden 1945 von den Tschechen bzw. Polen vertrieben, da sie der verhassten deutschen Volksgruppe angehörten. Rasch nach ihrer Flucht schloss meine Großmutter väterlicherseits ihr in Brünn begonnenes Studium der Chemie an der Technischen Universität Wien ab. Danach arbeitete sie als Laborantin in einem chemischen Labor. Meine Großmutter mütterlicherseits arbeitete bis zu ihrer Pensionierung in einer Spritzgussfabrik in Wien Hernals. Ich erinnere mich daran, als Kleinkind im Fabrikshinterhof meine erste Übungsrunde mit einem Kinderrad gemacht zu haben. Ob ich es von meiner Oma geschenkt bekam, weiß ich nicht mehr.
An einem Regentag im Mai 2019 radeln wir die Eurovelo 9 Route nach Mistelbach. Wegen Starkregens steigen wir dort in den Regionalzug nach Břeclav (Lundenburg) um, wo wir zügig den nächsten Fahrkartenschalter aufsuchen. Zu diesem Zeitpunkt haben wir noch keine Fahrradreservierung für die Rückfahrt von Breslau nach Wien in der Tasche, da man in Wiener Bahnhöfen nicht in der Lage war, uns eine zwei Landesgrenzen überschreitende Fahrradreservierung zu verkaufen. Der Bahnbeamtin in Břeclav ist unser auf Englisch vorgetragenes Anliegen offenbar ebenfalls zu kompliziert: Sie deutet auf ihre Uhr und lässt vorsorglich den Rollbalken herunter. Dass wir weiterhin keine Reservierungen haben, sollen wir im weiteren Verlauf der Reise noch bereuen.
Geburtshaus der Großmutter
Aber vorerst geht es bei Sonnenschein und erstklassig beschildert durchs tschechische Weinviertel. In Mikulov (Nikolsburg) stärken wir uns mit Kofola, einer tschechischen Cola-Variante. Wir passieren den idyllischen Dyje Stausee und radeln entlang einer Grünroute nach Brünn. Nach der Besichtigung der Thomaskirche, in der meine Großmutter getauft wurde, probieren wir am Brünner Bahnhof unser Glück. Die Bahnangestellte am Schalter blättert verzweifelt durch ein dickes Fahrplanbuch und gibt nach einer halben Stunde auf. Immerhin schließt sie nicht den Rollladen vor unserer Nase. Aber wir bleiben radticketlos.
Nach komfortabler Regionalzugfahrt erreichen wird Sternberk. In drei Etappen radeln wir über unbefestigte und oft gatschige Wege und Landstraßen durch die Waldeinsamkeit des Altvatergebirges, vorbei an Schiliften und Schihütten. In einer Kapelle in Suchá Rudná (Dürrseifen) begegnen wir einem Touristen aus Prag. Er kennt die Kriegs- und Vertreibungsgeschichte der Sudetendeutschen. Er schließt unser freundliches Gespräch mit: „We know what happened, but we are a new generation.“
Ohne Grenzkontrolle radeln wir nach Polen. In Łąka Prudnicka suche ich vergeblich das Geburtshaus meiner Oma. Möglicherweise ist es eines der vielen verfallenen Häuser, die hier unbewohnt verblieben sind. Auch der alte Friedhof wurde aufgelassen. Der deutschsprechende Pfarrer lädt uns zur Messe ein und meint nüchtern: „Es leben jetzt keine Deutschen mehr hier. So ist eben Geschichte.“
Mit dem Zug rollen wir in Breslau ein, wo meine Oma – wie sie mir erzählte – einige Kindheitssommer verbrachte. Die Fahrkarten dorthin bekommen wir nach dem Einstieg in Prudnik bei einem gemütlichen Schaffner mit roter Krawatte und Boris-Jelzin-Nase.
Das tip-top herausgeputzte Breslau überrascht mit viel Radverkehr und internationalem Tourismus. Für meinen Geschmack zu viel Trubel im Zentrum, gefällt mir die ruhigere Oderpromenade deutlich besser, da man auf gemütlichen Bänken sitzend, das Landen und Abfahren der Ausflugsschiffe beobachten kann.
Fahrradmitnahme unmöglich!
Einen Tag vor der geplanten Rückfahrt pilgern wir zum Bahnhof – schließlich haben wir die Hoffnung nicht aufgegeben, dass wir mit den Rädern im Zug nach Wien kommen. Auch eine Kombination von Regionalzügen würden wir nehmen, erklären wir am Schalter. Nach 20 minütiger Beratung mit einer etwas englischverständigeren Bahnbeamtin, fällt diese letztlich ihr Urteil: „Rower (Polnisch für Fahrrad), impossible!“ Fahrradmitnahme unmöglich!
In der Not frisst der Teufel Fliegen: Frustriert mieten wir ein Auto, verstauen unsere Räder darin und fahren auf der Autobahn nach Wien zurück. Diese Einwegfahrt über 535 Kilometer, die 6 Stunden dauert, wird uns am Ende 800 Euro gekostet haben – mehr als die gesamte restliche Reise.
Die Route:
Wien-Mistelbach: Rad
Mistelbach-Břeclav (Lundenburg): Zug
Břeclav (Lundenburg)-Pasohlávky (Weißstätten): Rad
Pasohlávky (Weißstätten)-Brno (Brünn): Rad
Brno (Brünn)-Sternberk (Sternberg): Zug
Sternberk (Sternberg)- Rýmařov (Römerstadt): Rad
Rýmařov (Römerstadt)- Karlovice ve Slezsku (Karlsthal): Rad
Karlovice ve Slezsku (Karlsthal)- Głuchołazy (Ziegenhals): Rad
Głuchołazy (Ziegenhals)- Łąka Prudnicka (Wiese Gräflich): Rad
Łąka Prudnicka (Wiese Gräflich)-Prudnik (Neustadt): Rad
Prudnik (Neustadt)- Wrocław (Breslau): Zug
Wrocław (Breslau)-Wien: Auto