Gebrauchte Kleidung, Retro-Fahrräder, antiquierte Accessoires: Immer mehr Menschen begeistern sich für Mode und Technologie vergangener Tage. Doch woher kommt die Faszination für Vintage? Der DRAHTESEL hat sich bei Vertreterinnen und Vertretern der Szene umgehört...
“In unsicheren Zeiten blickt man in die Vergangenheit”
Franz Kainz
Ich glaube, die Leute entdecken die alten Sachen vor allem in wirtschaftlich schlechten Zeiten. Wenn die Zukunft unsicher ist, blickt man in die Vergangenheit. Die Qualität der alten Sachen ist außerdem meistens besser: Sie halten länger, und du kriegst sie günstig am Flohmarkt oder bei Humana. Du kannst sie mit allem möglichen kombinieren, hast deinen eigenen Stil. Für mich ist es eine Form der Konsumverweigerung. Du kaufst nicht bei großen Ketten, die unter dubiosen Bedingungen produzieren lassen. Ich war immer schon ein Flohmarktgeher. Wenn ich Geld hatte, habe ich es lieber in Platten oder Bücher investiert, aber nicht in Fetzen oder neue Fahrräder.
Ich habe im Lauf der Jahre sechs oder sieben Räder zusammengebaut: Mit Hilfe von Freunden und aus übrigen Teilen. Den Rahmen für dieses Rad habe ich um 23 Euro bei eBay gekauft. Ich finde es witzig, dass die ganze Fixie- und Vintage-Ästhetik jetzt so modern geworden ist. Anwälte und Geschäftsleute kaufen sich im Geschäft Fahrräder, die aussehen, als wären sie selbst zusammengebaut. Aber egal: Hauptsache es ist ein Rad.
Franz Kainz, Schuhmacher und Grafiker
“Ohne Ironie kannst du das nicht tragen”
Mira Kolenc
Es ist eine Frage der Ästhetik. Letztendlich kann niemand erklären, warum ihm etwas gefällt oder nicht. Bei mir hat es mit 16 Jahren begonnen. Ich fand die Frauen in den alten Fellini-Filmen schön, toll und extravagant. Damals war Vintage noch kein Hype, und du hast billig in den 2nd-Hand-Läden die Sachen bekommen. Mein erstes Stück war ein 1960er-Mantel in beige. Inzwischen bin ich stilmäßig in den frühen 1950er-Jahren gelandet. Was meine Großmutter zum Beispiel gar nicht verstehen kann, die findet eher neue Sachen gut. Ich kann mir vorstellen, dass manche Menschen Gebrauchtkleidung aus einer antikonsumistischen Verweigerungshaltung tragen. Aber für mich ist das – um ehrlich zu sein – nicht entscheidend. Ich mag alte Handwerkskunst und lasse mir auch sehr viel schneidern. Nostalgie für eine bessere alte Zeit steckt für mich keine dahinter: Ich kann nämlich mit dem Frauenbild der 1950er-Jahre wenig anfangen. Die Mode funktioniert als ein Zitat mit Augenzwinkern. Ohne Ironie kannst du das nicht tragen.
Mira Kolenc ist Zuckerbäckerin, Kolumnistin und fixer Bestandteil der Wiener Ausgeh-Szene.
“Der historische Kontext ist interessant”
Robert Spoula
Mir gefällt die Rückbesinnung auf Originalquellen. Sei es beim Tweed Ride oder bei Cocktails. Ich glaube, dieses historische Bewusstsein ist wichtig, sonst bleibt es bloß Spaß oder Verkleidung. Ich interessiere mich für den historischen Kontext. Ist es nicht faszinierend, dass das Radfahren eine wichtige Rolle für die Emanzipation der Frauen gespielt hat? Oder die Ausbildung der Cocktail-Kultur in Europa eine Folge der Prohibition in den USA war? Für meine Drinks bemühe ich mich, die originalen Rezepturen nachzumischen und den historischen Kontext zu verstehen. Ein anderer Aspekt ist Stil, die Sehnsucht nach einer bestimmten Qualität. Für ein Tweed-Sakko, ebenso wie für Cocktails brauche ich gute Zutaten. Die lassen sich nicht durch billige, synthetische ersetzen. Es gibt Vintage-Parties, wo sich die Leute penibel anziehen wie in den 1920er-Jahren und dann trinken sie ein Red Bull dazu. Das ist für mich ein No-Go.
Robert „Rob The Hat“ Spoula, PR- Manager im Kulturbereich, mixt in der Freizeit authentische Cocktails auf seiner Fahrrad-Anhänger-Bar.
“Begeistert von Dingen, die funktionieren”
Georg Brockmeyer
Warum setzt man sich auf ein altes Waffenrad oder – so wie in meinem Fall – auf ein neues Rad, das nach alten Plänen gemacht ist? Ich glaube, es geht um eine Begeisterung für Dinge, die immer schon funktioniert haben. Man muss sagen, dass die Fahrräder für den Stadtverkehr schon zu Anfang des 20. Jahrhunderts ziemlich ausgereift waren. Da ist alles dran, was man braucht: Schutzbleche, Kettenschutz, eine wartungsarme Gangschaltung. Es kommt nicht von ungefähr, dass Puch das Waffenrad jetzt wieder neu auflegt. In der Stadt brauche ich keinen Schnickschnack. Natürlich geht es auch um Ästhetik: Dinge oder Kleider im Stil unserer Großeltern sind ganz einfach schön. Mit einem klassischen Herrenanzug aus guter Wolle ist man nie over- oder underdressed. Er hat sich – könnte man sagen – historisch bewährt.
Georg Brockmeyer ist Kommunikationsberater
in Wien und Stammgast beim Tweed Ride Vienna.
“Es entspringt dem Wunsch nach Individualität”
Isabella Ottawa
Begonnen hat alles hat im Kleiderschrank von meiner Schwester und mir. Der war immer randvoll mit Sachen, von denen wir bestenfalls fünf Stücke angezogen haben. Entweder man wirft dauernd etwas weg, was natürlich schade ist. Oder man macht etwas draus. Das ist im Wesentlichen die Idee der „Gwandleichen“. Ich glaube, die Leute sind einfach übersättigt von H&M-Uniformen. Und sie beginnen nachzudenken, wie es sein kann, dass ein Baumwoll-Shirt vom anderen Ende der Welt 2,50 Euro kostet. Nostalgie spielt wahrscheinlich auch eine Rolle. Alte Stücke wecken Erinnerungen an die Kindheit. Außerdem ist jedes alte Stück ein Unikat, das du nirgendwo anders kriegst. Ich glaube, der Wunsch nach Individualität hat auch den Vintage-Trend bei den Fahrrädern ausgelöst.
Designerin Isabella Ottawa (rechts im Bild) und Geschäftsführerin Veronika Stocker in der Upcycling-Boutique „Auferstanden“ hauchen alten Sachen neues Leben ein.
www.gwandleichen.com
TEXT: MATTHIAS G. BERNOLD