Keine andere Technologie beförderte die Freiheit der Frauen so sehr wie das Fahrrad, schreibt Melissa Gomez in ihrer Coverstory für den aktuellen Drahtesel.

Die Erfindung des Fahrrades vor 200 Jahren bedeutete einen Durchbruch in Europas vorindustrieller Gesellschaft – war es doch das erste mechanisierte Individualtransportmittel, das sich nicht auf domestizierte Tiere stützte.

Während das Fahrrad Männern vor allem zur Erholung diente, war es für Frauen weit mehr: ein Katalysator zur Emanzipation, Freiheit und Freude. Die moralischen und dominierenden Strukturen der damaligen Zeit beschränkten Frauen auf Ohnmacht und Unbeweglichkeit und verweigerten ihnen einen weitgehend selbständigen und lebendigen Lebensstil. Die ersten Fahrradfahrerinnen forderten daher ernsthaft den Status-quo heraus und brachen mit den Tabus, die ihnen von den selbstbestimmten Hütern der öffentlichen Anständigkeit auferlegt wurden.

Frauen in “skandalösen Hosen”

Nicht nur, dass das Radfahren als obszön galt und ihm ein schädlicher Einfluss auf die Keuschheit der Frauen zugeschrieben wurde, warnten die Ärzte darüber hinaus vor den Gefahren für die Gesundheit und Fruchtbarkeit. Was es den Radfahrerinnen der Anfangszeit außerdem erschwerte: Ein unpraktischer Dresscode, der die Körperbewegung stark einschränkte. Das ist der Grund, weshalb die Frauen bald ihre Kleider gegen geknöpfte Hosen, sogenannte Bloomers – benannt nach der US-amerikanischen Frauenrechte-Vorkämpferin Amelia Bloomer – tauschten. Gewissermaßen als Nebeneffekt des Radfahrens kam es so zu einer Befreiung vom starren viktorianischen Korsett, und die Frauen kamen in den Genuss einer bis dahin unvergleichbaren Bewegungsfreiheit. Frauen begannen nicht nur, Bewegung, Mut und Schnelligkeit zu erleben, sondern wurden auch selbstbewusst, selbstsicher und autonom.

Selbstbewusst und autonom

Diese Bewegungsfreiheit erleichterte den Frauen auch den Zugang zu Bildung und Arbeitsplätzen und öffnete ihnen die Türen zu politischem Aktivismus. Das Fahrrad war auch ein Mittel, das Frauenwahlrecht zu erstreiten, waren es doch die selben rebellischen Frauen, die die neuen „skandalösen“ Hosen trugen und das Stimmrecht für Frauen einforderten.

In Leicester wird an die Aktivistin Alice Hawkins erinnert, als sie mit ihren Bloomers durch die Stadt radelte und das Wahlrecht für Frauen einmahnte. Dabei forderte sie die starre Rollenverteilung heraus und etablierte auf diese Weise das Fahrrad als Symbol für die Emanzipation von Frauen. Die US-Amerikanerin Susan B. Anthony, eine wichtige Frauenrechtlerin drückt es so aus: „Ich glaube, das Fahrrad hat mehr für die Emanzipation der Frauen getan als irgendetwas anderes auf der Welt.

Frauenfeindliche Gesellschaftsordnungen

Den Befreiungsschlag, der den Frauen in der westlichen Welt vor mehr als hundert Jahren gelang, haben Frauen andernorts noch vor sich. Beispielsweise in Saudi-Arabien, wo es Frauen verboten ist, das Fahrrad als Verkehrsmittel zu benutzen und wo sie in Begleitung eines Mannes sein müssen, um sich überhaupt fortbewegen zu dürfen. Oder im Iran, wo es ernsthafte Beschränkungen für weibliches Radfahren gibt.

Aber gegen frauenfeindliche Gesellschaftsordnungen dieser Art regt sich Widerstand: Frauen erkennen das Fahrrad als Werkzeug zu Protest und zur Förderung der Gleichstellung. In Afghanistan zum Beispiel gründete eine Gruppe von Frauen im Jahr 2011 ihr eigenes Radsport-Team. Die Sportlerinnen erkannten, dass die einzige Möglichkeit, das Tabu zu brechen, darin besteht, das Bild von radfahrenden Frauen in den Köpfen zu verankern und zu normalisieren.

In Ägypten und in der Türkei versammeln sich radelnde Frauen, um der Politik der Belästigung, Diskriminierung und Einschüchterung entgegenzuwirken und zur Veränderung der weiblichen Selbstwahrnehmung beizutragen.

In der westlichen Welt gibt es keine offiziellen Beschränkungen für Frauen, die auf den Straßen radeln, obwohl sich städtebauliches Design nicht selten feindselig gegenüber Frauen präsentiert. Grundsätzlich lässt sich sagen: Je autozentrierter eine Stadt, desto patriarchaler sind ihre Strukturen. Ein Indikator dafür, wie integrativ die Infrastruktur einer Stadt ist, ist der Prozentsatz der Frauen, die radeln. Beim Versuch, Ungleichheiten zu beseitigen, stoßen Frauen wie radfahrende Menschen insgesamt auf Widerstand seitens der hegemonialen Ordnung.

Gegen das Primat des Autoverkehrs

Es gibt jedoch wichtige Anzeichen für einen Paradigmenwechsel, angestoßen von Aktivistinnen und Aktivisten, die auf eine wirklich integrative Stadt ohne Ungleichheit hinarbeiten. Beim Volksentscheid Fahrrad in Berlin ist das zum Beispiel der Fall. Die dort Aktiven setzen sich für ein Ende der Diskriminierung von umweltfreundlichen Mobilitätsformen ein und fordern die Anpassung der Rechtslage. Auch wurde beim Volksentscheid Fahrrad eine eigene Frauengruppe eingerichtet, die sich unter anderem mit der Frage befasst, warum der Frauenanteil unter den Aktiven nur bei rund einem Drittel liegt. Frauen aktiv anzusprechen, ist dann auch das Ziel von Lena Osswald, der Mitgründerin der Gruppe: „Die Frauengruppe dient als Anlaufpunkt aktiver Frauen, die ausloten möchten, wie sie sich aktiv in den Volksentscheid Fahrrad einbringen können. Darüber hinaus ermöglicht uns die Frauengruppe auch gegenseitiges Empowerment“.

Ein weiteres Beispiel ist das in Kolumbien gegründete Radfahrerinnen-Netzwerk „Mujeres Bici-bles“, das geschaffen wurde, um gegen das Primat des Autoverkehrs, Straßenbelästigung und unsichere und unzureichende Infrastruktur aufzutreten. Das Netzwerk ist inzwischen in vielen lateinamerikanischen Städten präsent und verbreitet sich auch in Spanien.

Für den Wandel

Reaktionäre Männer des 19. Jahrhunderts hatten guten Grund, sich Sorgen zu machen. Das Fahrrad wurde für die Frauen damals ein Vehikel auf dem Weg zu Freiheit und Selbstbestimmung. Auch heute befördert die Tretmaschine den verkehrs- und gesellschaftspolitischen Wandel: Ein Vehikel, um die aktive politische und wirtschaftliche Beteiligung von Frauen in der Gesellschaft zu fördern und gleichzeitig eines, um das Recht auf die Stadt zurückzuerobern. Also: Rein in die skandalösen Hosen und rauf aufs Rad!

Illustrationen: Burn Bjoern

 

Zur Autorin:

Melissa Gomez lebt und arbeitet als Politikwissenschaftlerin und Stadtplanerin in Berlin. Radfahren, Partizipation und Bürgerinitiativen sind für die gebürtige Kolumbianerin Instrumente, um unsere Städte lebenswerter zu machen.