Radeln auf dem Land: Zwischen Genuss und Gefahr
Radfahren auf dem Land kann ganz schön, aber auch ganz schön gefährlich sein. Drei Autorinnen und ein Autor über die Vor- und Nachteile des Radfahren außerhalb der Stadt.
Einsame Landstraßen, Hühner am Straßenrad, die Frische der umliegenden Wälder, ein weiter Horizont ohne Schlote, Hochhäuser oder andere Schatten menschlichen Wirkens: So sieht das Idealbild des Radfahrens am Land aus. Wer sich entschlossen hat, außerhalb der Ballungszentren zu leben und dabei auf nachhaltige Mobilität setzt, der bemerkt bald, dass die Wirklichkeit eine deutlich rauere ist: Wenig oder schlechte Fahrrad-Infrastruktur, rücksichtlose Autofahrende, hohe Geschwindigkeiten des Kfz-Verkehrs und fehlende Integration öffentlicher Verkehrsmittel mit sanften Mobilitätsformen erfordern großes logistisches Geschick.
Verkehrspolitische Maßnahmen
Die Berichte und Anekdoten unserer Autorinnen und Autoren auf den nächsten Seiten zeigen, dass es zwar möglich ist, auch auf dem Land ohne Auto zu leben. Aber auch, dass für die Verkehrspolitik in den ländlichen Regionen allerdings größter Handlungsbedarf besteht. Nicht ohne Grund fordert die Radlobby Österreich seit geraumer Zeit gesetzlich verankerte Seitenabstände beim Überholen, systematische Errichtung von Radwegen entlang von Überlandstraßen und mehr Investitionen.
„Am Land brauchsch a Auto“
Magda Jöchler wuchs in einem kleinen Ort in Südtirol nahe Brixen auf. Die Vorteile des Alltagsradelns entdeckte sie nicht erst in der Großstadt.
Ich bin in einem 3.400 Einwohnende zählendem Dorf in Südtirol aufgewachsen. Nicht auf 1.300 m ü.d.M., aber auch unten im Tal wächst man hier mit der Überzeugung auf „am Land brauchsch a Auto“. In die Schule fährt man mit dem Bus, „in die Stadt“ mit dem Auto oder ebenfalls mit dem Bus. Ganz so strikt habe ich mich daran nicht gehalten: Das 30 Jahre alte Hollandrad meiner Mutter landete so im Gebüsch vor der Diskothek und wart seitdem nie wieder gesehen. Bei schönem Wetter bin ich mit dem Rad sogar zur Schule oder eben „in die Stadt“ gefahren. Ansonsten war das Fahrrad hauptsächlich Spaßgerät. Warum das so war, verstehe ich heute nicht mehr.
Exakt drei Kilometer sind es von meinem Dorf bis nach Brixen, in die Stadt. Mein Arbeitsweg in Wien ist heute zwar 300 Meter länger, dafür das Rad zu nehmen fühlt sich aber selbstverständlicher an. An den Steigungen kann es nicht liegen: Die gerade mal 80 Höhenmeter rollte ich in Südtirol morgens in gemütlichen fünfzehn Minuten – meist aber in gerasten zehn Minuten – bergab. Und das mit einem entscheidenden Vorteil: 30 Minuten mehr Schlaf! Damit war ich in meinem Dorf aber beinahe die einzige.
Nach einer nicht repräsentativen WhatsApp-Umfrage unter Bekannten weiß ich: Das ist heute immer noch so. In den letzten fünfzehn Jahren hat sich Südtirol zu einem Radparadies entwickelt: Mitten durch den Hof meiner Familie führt heute ein komfortabler Radweg, diesen Sommer verkündete der Bürgermeister stolz die Anschaffung von 49 E-Bikes für den Verleih an Pendelnde – sie sollen weggehen wie die warmen Semmeln. Für die Kinder aus dem Dorf scheint die Distanz zur Stadt aber immer noch unbewältigbar: Sie trifft man schon seit einiger Zeit auf den viel zu großen Elektrorädern ihrer Eltern. Ich weiß, ich habe eine Erklärung dafür angeteasert, muss Sie aber enttäuschen. Dafür habe ich einen Lösungsvorschlag: mehr stromloses Alltagsradeln am Land, als gutes Beispiel für unsere Kinder.
Eine individuelle Logistik entwickeln
Als Landarzt im Waldviertel ist Klaus Renoldner bis zu seiner Pensionierung im Jahre 2011 jährlich über 10.000 Kilometer mit dem Rad gefahren, ab 2006 auch die ganzen Winter hindurch. Er absolvierte tausende Hausbesuche bei Patienten. Für dringende Notfälle stand ein Auto bereit. Seit 2011 lebt er sehr gut mobil ohne Auto.
Für Alltagsradelnde am Land gelten etwas andere Kriterien als für Stadtradelnde. Während man in Wien per Rad meist schneller ans Ziel kommt als mit Auto oder öffentlichen Verkehrsmitteln, ist am Land das Rad doch relativ langsamer. Dennoch bietet es viele Vorteile, die man erst so richtig genießen kann, wenn man sich mit den gängigen Vorurteilen auseinandergesetzt und sie überwunden hat.
In meiner Gemeinde waren die öffentlichen Verkehrsverbindungen sehr schlecht, der Bahnhof 19 Kilometer entfernt. Ich genoss es, täglich 35 bis 50 Kilometer durch die Natur zu radeln, kannte meine Abkürzungen und Feldwege.
Für größere Entfernungen, z.B. Wochenendfahrten, Urlaub oder Kongressbesuch hat sich die Kombination von Rad und Bahn bewährt. Auch da gilt es, Organisation zu lernen und eine individuelle Logistik zu entwickeln. Das Faltrad hat sich bewährt, da ich es ohne Reservierung in jedem Zug mitnehmen kann.
Die Begegnungen mit Wildschweinen, Rehen und Hasen waren stets freundlich, hier gilt es ebenso, die irrationale Angst zu überwinden wie beim Fahren in der Nacht. In den Sommermonaten grüßten mich daherkommende Tourenradler freundlich, wohl meinend, ich sei mit zwei großen Packtaschen (mit medizinischer Ausrüstung) auch einer von ihnen.
Mit guter Winterausrüstung inklusive Spikereifen war ich öfters auch manchem Autofahrenden überlegen, der an Stellen der Schneeverwehung stecken blieb, während ich mein Rad wenige Meter durchschob, und es bei Sperren oder Überschwemmungen schieben oder tragen konnte. Gegen extreme Sommerhitze helfen viel Wasser und der kühlende Fahrtwind.
Einmal war ich bei großer Sommerhitze unterwegs, ausgerüstet mit zwei Liter Trinkwasser. Ich fuhr an einem Feld vorbei und hörte, wie eine mir bekannte Bäuerin, die vor Hitze stöhnte, ihrer Schwiegertochter zurief: „Hast was z’tringa?“ Jene verneinte. Ich blieb spontan stehen und gab der Bäuerin eine volle Wasserflasche. Sie strahlte vor Freude und meinte, sie müsse sich unbedingt einmal revanchieren, zu Kaffee einladen oder so. Dazu kam es zwar nicht mehr, da ich bald darauf in Pension ging. Aber die Erinnerung an das frohe Gesicht erfüllt mich heute noch mit Freude.
Ein Interview mit dem radelnden Landarzt und Umweltaktivisten Klaus Renoldner zum Anhören findet sich im Podcast „Reich durch Radeln“:
drahtesel.or.at/rdr-landarzt-renoldner/
„Die Radlfaorarin“
Birgit Aigenbauer wollte eigentlich einmal Radprofi werden. Daraus wurde zwar nichts. Aber ein bestimmender Teil ihres (Familien-)Lebens ist das Radfahren allemal. Auch wenn sie 24 Kilometer vom nächsten Geschäft entfernt wohnt.
Radprofi wollte ich werden – wurde aber nichts daraus. Trotzdem nennt mich jeder hier „die Radlfoararin“. Und das, obwohl ich mit drei Kindern keine Zeit zum Trainieren habe. Zeit zum Radeln allerdings genug, denn wir haben kein Auto und wohnen am Land. Zum nächsten Geschäft sind es hin und zurück 24 Kilometer. Öffis gibt es keine, dafür eine echt idyllische Strecke entlang eines Bächleins, und die will mitunter teils mehrmals täglich zurückgelegt werden. Mit E-Stufentandem und Radanhänger kann ich alle 3 drei Kinder mitnehmen. Wobei die Große meist schon allein mit ihrem E-Liegetrike unterwegs ist. Seit einem halben Jahr hat sie den Radführerschein und schon 5.000 Kilometer auf dem Tacho …
Wir radeln nämlich auch in den Urlaub. Heuer zum Beispiel von zu Hause nach Italien, Frankreich und Deutschland. Vor zwei Jahren radelten wir nach Finnland und – vor den Kindern – begaben wir uns auf eine Rundtour durch Asien und Australien.
Die größten Herausforderungen beim Radeln am Land? Wahrscheinlich dieselbe wie in der Stadt: rücksichtslose Autofahrende. Zu knapper Überholbabstand. Auf unseren schmalen Straßen kommen noch die „Kurvenschneider“ hinzu – speziell in der Nacht achten sie in Kurven nur auf den Lichtkegel entgegenkommender Autos. Außerdem gibt es hier keine Möglichkeit, mit Öffis Wege abzukürzen. Der VOR-Bus nimmt keine Fahrräder mit. Aber zu Fuß wären unsere Ziele zu weit von den Haltestellen entfernt. Noch eine Herausforderung: das Winterradeln mit Kindern. Die Kleinen beginnen bald, an Finger und Zehen zu frieren; Sohlenheizungen helfen zumindest bedingt. Auch schwierig: Schnee und Schneematsch.
Ich habe nicht mitgezählt, wie oft mich jemand nach dem Warum gefragt hat. Man fällt auf mit unseren Spezialgefährten. Manchmal ist es mühsam für die Kinder, weil ein einfacher Stopp außerhalb unseres gewohnten Umfeldes oft ein längeres Gespräch über unsere besondere Art der Fortbewegung nach sich zieht. Schnell sind Stereotype zur Hand: besonders verrückt, besonders öko, besonders gesund oder besonders bedauernswert (speziell die Kinder).
Zumindest mit dem Wort „besonders“ haben die Leute Recht: Für uns bedeutet Radfahren nämlich
besonders spannend, besonders spaßig, besonders entschleunigend und – um es mit den Worten meiner Tochter auszudrücken: „Autofahren ist langweilig, nur beim Radfahren ist man wirklich bei sich.“
Babybauch, Bullitt, ÖBB
Eliza Brunmayr lebte jahrelang in Wien, bis sie mit Familie in einen Bio-Bauerhof ins oberösterreichische Rutzenmoos zog. Ihre Mobilität ist heute eine andere.
Im Sommer 2018 haben wir unser Bullitt bepackt und sind umgesiedelt. Von der Stadt aufs Land. Von Wien ins oberösterreichische Rutzenmoos. Von einer 45m²-Wohnung im neunten Bezirk in ein Wohnprojekt auf einen Biobauernhof. OK, ich gebe zu, der Umzug der befüllten Schachteln und ausgewählten Möbel hat schon vorher per VW-Bus stattgefunden. Aber den richtigen Abschied aus Wien wollten wir sinnlicher erfahren, die Distanz spüren mit all dem was dazwischen liegt. Wofür ein Railjet zwei Stunden braucht, haben wir uns eine knappe Woche Zeit genommen. Unser damals siebenmonatiges Kind haben wir mit Maxi-Cosi ins Transportrad gesetzt, da hatte dann noch das Babyzeug für unterwegs Platz. Die Campingsachen und unser Gewand waren in den Packtaschen des Tourenrads verstaut.
Wie hat sich meine bzw. unsere Mobilität seither verändert? Während ich in Wien automatisch immer zum Fahrrad gegriffen habe, denke ich nun darüber nach, wie ich wohin fahre und wann. In die Arbeit pendeln nach Linz? Per Rad zum Zug, zu Fuß ins Büro. Einkaufen? Einen Großteil deckt schon der Hofladen ab, der Rest geht leicht per Fahrrad. In die näheren Zentren Gmunden oder Vöcklabruck? Da kommt das Fahrrad oder nun, mit wachsendem Babybauch, auch vermehrt der Bus zum Einsatz – also der Linienbus, denn der VW-Bus wurde verkauft. Glücklicherweise kommen wir ohne eigenes Auto aus, können uns aber dennoch gelegentlich und unkompliziert eines von Mitbewohnerinnen und –bewohnern leihen. Ein offizieller E-Carsharing-Standort bei uns am Hof ist ebenfalls in Planung. Und wir haben uns eine ÖBB-Familien-Österreichcard gegönnt, um zum Beispiel ganz spontan Wien einen Besuch abzustatten. Es sind nur zwei Stunden Bahnfahrt – aber wir wissen nun wie viel Landschaft dazwischenliegt.