Autonome Fahrzeuge sind verkehrspolitisches Zukunftsthema, Hoffnung der Autoindustrie und Heilsversprechen für den motorisierten Individual­verkehr. Aber was bedeuten die fahrerlosen Vehikel für Radfahrende? Mit dieser Frage beschäftigen sich die Verkehrsforscher Tadej Brezina und Ulrich Leth in ihrer Cover-Geschichte für den aktuellen DRAHTESEL.

Mit dem autonomen Fahren erreicht uns im Verkehrswesen der nächste große Hype nach der E-Mobilität. Und wie auch bei der Elektromobilität, die seit über 100 Jahren bekannt ist und im motorisierten Individualverkehr – zumindest hierzulande – trotzdem nur einen äußerst kleinen Anteil der Antriebstechnologie einnimmt, wird die Verbreitungsgeschwindigkeit und die Durchdringung der Flotte mit autonomen Fahrzeugen nicht nur durch die Technik bestimmt, sondern auch maßgeblich von rechtlichen, verkehrsorganisatorischen und ethischen Rahmenbedingungen abhängen.
Die Frage, wie sich selbstfahrende Autos auf das Radfahren auswirken könnten, wird von Experten dabei sehr unterschiedlich beantwortet.

Alles wird gut!?

Optimistischen Einschätzungen zufolge könnten die Kfz-Verkehrsmengen durch die neue Technologie deutlich zurückgehen und die Verkehrssicherheit drastisch steigen. Zumindest dann, wenn man dieser Prämisse bestimmte Annahmen zugrunde legt:

Regeltreue: Autonome Fahrzeuge verhalten sich StVO-konform: sie halten sich an Tempolimits, überholen nur, wenn ausreichend Überholabstand gegeben ist, sie kennen und befolgen Vorrangregelungen und halten zuverlässig vor Zebrastreifen und Radfahrerüberfahrten.

Weniger Unfälle: Nicht nur die Regeltreue trägt zur Verkehrssicherheit bei. Die Fahrzeuge sind so programmiert, dass sie Unfälle unter allen Umständen vermeiden. Momentan sind Unachtsamkeit, Vorrangverletzung, nichtangepasste Geschwindigkeit, Alkohol und mangelhafter Sicherheitsabstand durch Kfz-Lenkende Ursache von fast 60 Prozent aller Unfälle mit Personenschaden und Pkw-Beteiligung. Wären nur noch autonome Fahrzeuge unterwegs, können nur noch technische Gebrechen oder Software-Fehler als Unfallursache auftreten.

Ein Verkehrsraum für alle: Damit – so argumentieren die Technik-Optimisten – wird die Segregation des Verkehrsraums in Flächen für Fußgehende, Radfahrende und Kfz teilweise obsolet. Radwege sind nicht mehr vonnöten, auch im Mischverkehr ist man nun sicher unterwegs. Zufußgehende können die Fahrbahn beliebig queren – die Fahrzeuge detektieren den Querungswunsch und schaffen die notwendige Zeitlücke zwischen den Fahrzeugen.

Effizientere Raumnutzung: Autonome Fahrzeuge brauchen weniger Platz. Durch ride-sharing (Mitfahren im autonomen Fahrzeug) reduziert sich die Gesamtfahrzeugmenge deutlich, was – vor allem durch den Entfall vieler Abstellflächen – Platz für die alternative Nutzung des öffentlichen Raums schafft. Und durch den Wegfall der menschlichen Reaktionszeit können die Fahrzeuge in viel kleineren Abständen hintereinander fahren, was eine viel effizientere Ausnutzung des Verkehrsraums ermöglicht.

Schöne, neue Welt?

Nicht alle Experten teilen allerdings diese optimistischen Einschätzungen und sehen neue Probleme durch die Automatisierung entstehen. Und einige dieser Probleme könnten im Besonderen auch Radfahrende betreffen.

Mehr Kfz-Verkehr: Mehr Effizienz und Komfort der autonomen Fahrzeuge könnten zu einer enormen Attraktivitätssteigerung des Kfz-Verkehrs führen. Es ist naheliegend, anzunehmen, dass dadurch neuer Kfz-Verkehr induziert wird, der als nun „individueller öffentlicher Verkehr“ massiv Fahrgäste vom herkömmlichen, stations- und liniengebundenen öffentlichen Verkehr abzieht. Die staufreie Tür-zu-Tür-Verbindung ohne Parkplatzsuche – bisher ein Alleinstellungsmerkmal des Radverkehrs – wird plötzlich für alle verfügbar sein. Selbst kürzeste Fußwege können nun aus Bequemlichkeitsgründen mit dem Auto zurückgelegt werden. Mit allen negativen Folgewirkungen für das Gesundheitssystem.
Durch die neue Technologie werden auch Bevölkerungsgruppen, die momentan nicht mit dem Auto unterwegs sind bzw. sein können, autonom herumfahren: Kinder, Ältere, Personen ohne Führerschein, vom autonomen Warentransport ganz zu schweigen. Eine massive Zunahme des Kfz-Verkehrs ist also äußerst wahrscheinlich.

Technologische Risken: Unfälle von Tesla- und UBER-Fahrzeugen zeigen, dass die Technologie bei weitem noch nicht ausgereift ist. Einfachste Detektionsvorgänge (z.B. querende Zufußgehende, stehende Autokolonnen) funktionieren mitunter nicht, Notbremsungen werden nicht eingeleitet. Trotz intensiver Bemühungen der Autohersteller und Tests in der realen Fahrumgebung ist es nicht absehbar, wann die Systeme serienreif sind. Noch sind sie mit komplexen Situationen, wie sie vor allem im innerstädtischen Umfeld dauernd vorkommen, überfordert.

Geschwindigkeitsreduktion: Das Ausschließen jeder Möglichkeit eines Unfalls (z.B. mit einer Person, die plötzlich zwischen zwei parkenden Autos auf die Fahrbahn tritt) würde zumindest im bebauten Umfeld fast flächendeckend Schrittgeschwindigkeit bedeuten – und somit sämtliche Zeitvorteile durch das autonome Fahren zunichte machen. Es ist zu befürchten, dass es zu einer Kosten-Nutzen-Abwägung zwischen Unfallwahrscheinlichkeit und Reisezeitverlust kommen wird, dass Verletzte und Tote für schnelleres Vorankommen in Kauf genommen werden.

Segregierte Verkehrsflächen: Weil Schritttempo nicht wirklich zum Verkaufsargument für schicke Roboter-Autos taugt, ist anzunehmen, dass die einflussreiche Automobillobby alles daran setzen wird, den Verkehrsraum und die Verkehrsregeln entsprechend den Bedürfnissen autonomer Fahrzeuge umzugestalten. Während die Kommunikation der Fahrzeuge untereinander und zur Infrastruktur technisch lösbar erscheint, bereiten die vielen „Störfaktoren“ in einer Stadt – Zufußgehende, Radfahrende, spielende Kinder am Straßenrand – den Sensoren und Detektionsalgorithmen große Schwierigkeiten.
Verlockend scheint daher die Idee, Zufußgehende und Radfahrende von den Fahrbahnen zu verbannen, um kritische Situationen auf ein Minimum zu beschränken. Unterirdische Fußwege würden wieder in Mode kommen, Ampelschaltungen für Kfz optimiert, nicht systemkonformes Verhalten sanktioniert.

Es wäre die Renaissance der „Jaywalking“-Idee aus den 1920er-Jahren. Damals prägte man in den Großstädten der USA den Begriff des „jaywalking“ für das Überqueren der Fahrbahn an dafür nicht vorgesehenen Stellen. Die Unfallzahlen zwischen Fußgehenden und Kfz waren im Zuge der zunehmenden Motorisierung immer stärker gestiegen, das Image der Autokonzerne und des Autofahrens litt darunter. In einer beispiellosen Kampagne schaffte es die Autolobby damals, jegliches Verhalten zu diskreditieren und zu kriminalisieren, das den Kraftfahrzeugverkehr behinderte.

Verdrängung der Schwachen: Es ist zu befürchten, dass auch diesmal wieder die „schwachen“ Verkehrsteilnehmenden auf der Strecke bleiben, weil die Wirtschaftsinteressen am Hype des autonomen Fahrens überwiegen. Zu befürchten sind z.B. auch verpflichtende Ortungssender, die Radfahrende und Zufußgehende mit sich führen müssen, damit sie von autonomen Fahrzeugen wahrgenommen werden können. Es gab bereits erste Vorstöße mit in Schultaschen integrierten Sendern, um Fahrzeuglenkende auf nahe „Gefahrenquellen“ – die Schulkinder (!) – aufmerksam zu machen.

Wer keinen Sender trägt, ist vogelfrei?

Das hieße im Umkehrschluss, dass alle Verkehrsteilnehmenden ohne Sender praktisch nicht existierten und vogelfrei wären. Eine inakzeptable Entwicklung.

Kommunikationsprobleme: Offen ist auch die Frage, wie in Zukunft die Kommunikation zwischen radfahrenden bzw. zu Fuß gehenden Menschen und autonomer Maschine funktionieren soll. Wie können Radfahrende – mangels Blickkontakts – erkennen, ob sie von den Sensoren eines Fahrzeuges erfasst wurden? Wie können sie abschätzen, ob sie sicher die Fahrbahn queren können und das Fahrzeug ihnen Vorrang gewährt?

Übergangsphase: Ähnlich herausfordernd wie die skizzierten Probleme an der Phasengrenze zwischen autonomen Fahrzeugen und nachhaltigen Verkehrteilnehmenden verspricht die Übergangszeit zu werden. Zwei bis drei Jahrzehnte dauert es üblicherweise, bis sich eine Technologie innerhalb einer Fahrzeugflotte (nahezu) gänzlich durchgesetzt hat. Bis dahin sitzen auch Menschen hinter dem Lenkrad, mit all ihren Schwächen und ihrer Fehleranfälligkeit. D.h. in ein eingespieltes, wenn auch nicht fehlerfreies oder fehlertolerantes Verkehrssystem wird eine Technologie eingeführt, die zu Beginn mit weit komplexeren Situationen umgehen muss, als mit jenem Idealzustand, für den sie konzipiert ist.

Autonome Fahrzeuge und Verkehrspolitik

Autonomes Fahren wird das Mobilitätsverhalten grundlegend verändern. Es ist notwendig, jetzt die rechtlichen und verkehrsorganisatorischen Weichen so zu stellen, damit die Technologie zum Wohle der Bevölkerung eingesetzt wird. In den nächsten Jahren wird entschieden, ob Radfahrende und Zufußgehende (wieder) in Reservate gesperrt und verletzt werden dürfen, um eine möglichst rasche und lukrative Marktdurchdringung mit autonomen Fahrzeugen sicher zu stellen, oder ob die aktiven Mobilitätsformen die Rahmenbedingungen vorgeben, unter denen sich die neue Technologie in den Mobilitätsmix einzureihen hat.