Águeda im Norden Portugals mit seiner traditionsreichen Fahrradindustrie mausert sich zu einem der führenden Cluster in Europa. Michael Riedmüller hat sich in der Region umgesehen.

Fängt Jorge Santiago einmal an, über seine Firma zu sprechen, ist er kaum zu stoppen. Mit lauter Stimme die lärmenden Maschinen in seiner Fabrikhalle übertönend, erläutert er Fertigungslinien, Optimierungsprozesse, Expansionspläne oder E-Bikes als Zukunft der Fahrradindustrie. Alles mit der Verve eines Entrepreneurs, der eine neue Leidenschaft gefunden hat. Gemeinsam mit zwei Partnern übernahm der Mittfünfziger im Jahr 2015 den Fahrradhersteller Miralago/Orbita in Águeda in Zentralportugal, zwei Autostunden nördlich von Lissabon gelegen.

Von der Fahrradindustrie hatte er wenig Ahnung, als er das Angebot bekam, das alteingesessene Unternehmen zu kaufen. Das Potential aber überzeugte ihn. „Wir sind Teil einer grünen Bewegung, Fahrräder und saubere Transportmittel sind die Zukunft“, sagt er, während er den Besucher aus Österreich zu einer Produktionslinie führt – sichtlich erfreut über den zeitlichen Zufall. „Hier fertigen wir gerade eine neue Tranche an Citybikes für Wien“.

Wiener Citybikes aus Águeda

Tatsächlich: Wer auf einem der Wiener Leihräder unterwegs ist, sitzt auf einem Fahrrad aus Portugal. Auch die Räder der Bike-Sharing-Netzwerke in Paris, Ljubljana oder Malaga kommen aus der Orbita-Fabrik. Seit mehr als neunzig Jahren werden in der Gegend um Águeda Fahrräder, Motorräder und dazugehörige Komponenten produziert.

Bis in die 1980er-Jahre dominierte der Sektor die lokale Industrie, dann begann ein langer Abstieg. Portugal setzte auf Dienstleistungen, die herstellende Industrie wurde vernachlässigt, und auch die lokale Wirtschaft in Águeda war lange auf dem absteigenden Ast. Doch seit ein paar Jahren geht es wieder bergauf, die Radproduktion im ansonsten verschlafenen Landkreis in der portugiesischen Pampa auf halbem Weg von Lissabon nach Porto erlebt einen neuen Boom – und das in einer Zeit, in der die portugiesische Wirtschaft eine ihrer größten Krisen durchgemacht hat.

Die alten Fabriken setzen auf neue Produktionsmethoden und haben so einen Cluster ins Leben gerufen, in dem nationale und internationale Firmen neue Produkte testen und entwickeln. Heute ist Portugal mit fast zwei Millionen produzierten Einheiten der drittgrößte Fahrradhersteller Europas, Tendenz stark steigend.

Standortvorteile für Europa

Zwei der treibenden Institutionen hinter dieser Entwicklung sind der portugiesische Radsportverband und Abimota, der Verband der Zweiradindustrie. Ersterer eröffnete 2009 in Sangalhos eines der besten Velodrome Europas, das die weltweite Bahnradelite in das verschlafene Dorf unweit von Águeda bringt. Und Abimota betreibt gleich ums Eck der Orbita-Fabrik ein hochmodernes Testlabor, das Analysen für die Rad- und Komponenten-Entwicklung erstellt.

Das reicht von Sicherheitstests bis zu Langlebigkeits- und Konformitätsprüfungen von verschiedenen Komponenten wie Lenkstangen oder Fahrradketten. Firmen aus ganz Europa greifen auf die dortige Expertise zurück, für die lokalen Unternehmen sind die kurzen Wege ein riesiger Standortvorteil, wie Orbita-Chef Jorge Santiago erklärt.

Über das Testlabor hinaus betreibt Abimota Lobbyingarbeit, um Águeda prominenter auf der Weltkarte der Radindustrie zu platzieren. „Bike Value Portugal“ heißt die Initiative. Der Name, sagt Abimota-Chef Jorge Medeiros schmunzelnd, erklärt sich so: „Ein Bike Valley gab es bereits in Belgien, deshalb mussten wir namentlich umdisponieren.“

Ziel sei, die Produktion von Rädern und E-Bikes bis zum Jahr 2020 auf 3,5 Millionen hochzuschrauben. „Die Investitionen dafür werden zuerst vor allem von lokalen Unternehmen kommen, aber wir wollen in Zukunft auch vermehrt internationale Firmen nach Portugal holen.“

Regierung setzt Anreize

Das Projekt kann bereits erste Erfolge vorweisen. Der Radhersteller Orbea beispielsweise baute 2015 seine Fabrik in Águeda aus und schloss im Gegenzug seine Produktionsstätte in China. FJ Bike baut gerade eine riesige Manufakturhalle im lokalen Industriepark, und auch der chinesische Hersteller Cronus investiert in eine Produktionsstätte in Portugal. Die Stadtverwaltung von Águeda spielt dabei eine gewichtige Rolle: „Die Zusammenarbeit mit der lokalen Politik funktioniert hervorragend, vor allem, wenn es darum geht, geeignete Flächen zur Verfügung zu stellen“, sagt Medeiros.

Auch die portugiesische Regierung setzt Anreize. Beispielsweise mit günstigen Krediten, von denen bei Schaffung von nachhaltigen Arbeitsplätzen ein Teil der Kreditsumme erlassen werden kann. Bis 2020 hat Portugal ein Budget von 25 Milliarden Euro aufgesetzt, um Investitionen in Produktion, Forschung und Entwicklung im Fahrrad-Sektor zu fördern.

Einen der Gründe für den Boom der portugiesischen Radindustrie sieht Abimota-Chef Medeiros aber nicht nur in den finanziellen Anreizen, sondern im Standortvorteil gegenüber asiatischen Ländern: „Unsere Lieferzeit innerhalb Europas beträgt zwei bis drei Wochen, von der Bestellung bis zu dem Zeitpunkt, wenn das Rad beispielsweise in einem deutschen Geschäft steht.“ Paulo Rodrigues sieht dahinter einen grundsätzlichen Wandel bei Produktion und Handel.

E-Bikes gehört die Zukunft

Der Orbita-Geschäftsführer und bis vor einem Jahr Abimota-Chef ist einer der führenden Köpfe hinter dem portugiesischen Radboom. Im Gespräch mit dem DRAHTESEL wirft er Begriffe wie Grüne Wirtschaft, Smart Cities oder Industrie 4.0 in den Raum. Die Entwicklung in Águeda stellt er in einen größeren Rahmen der Revitalisierung der Industrie in Europa: „Wir haben hier bereits seit vielen Jahrzehnten einen Cluster, darauf müssen wir uns besinnen. Jetzt geht es darum, die Tradition mit Innovation zu verbinden.“
Wie Rodrigues sieht auch Santiago die Radindustrie dabei als Vorreiter, vor allem im Bereich grüner Mobilität: E-Bikes und Bike-Sharing-Netzwerken gehöre die Zukunft. „In Städten wie Wien sehen wir das ja heute schon“, sagt er mit einem Lächeln auf den Lippen, während er ein brandneues Wiener Citybike vom Förderband hebt.